Die "Liller Kriegszeitung" 1914/15

 

Lille im Jahre 1870-71 

Von Hauptmann Schröder.

Die Frage, welche Rolle die Stadt und Festung Lille im Kriegsjahr 1870/71 gespielt habe, ist im Kreise der Kameraden oft aufgeworfen worden: sie liegt um so näher, als wir durch eine ganze Reihe von Denkmälern und deren Inschriften immer wieder an die "Armee du Nord" und an die "Defense nationale" erinnert werden. Es mag daher manchem erwünscht sein, einmal die wichtigsten Daten zusammengestellt zu finden.
Lille war beim Ausbruch des Krieges der Sitz des 2. Armeekorps und damit verschiedener höherer Stäbe. Im Verhältnis zum Umfang der Festung, die in allen Hand- und Reisebüchern bis zuletzt als eine solche "ersten Ranges" bezeichnet wird, erscheint die damalige Garnison auffallend klein: sie bestand aus dem 75. und 91. Linienregiment und den 4. Dragonern, wozu dann natürlich Artillerie, Genie und Train traten. Noch wunderbarer aber berührt es, dass diese Truppen bereits am 22. Juli die Stadt verliessen, ohne Ersatz zu finden, so dass den Bürgerkanonieren von diesem Tage an der gesamte Wachtdienst des grossen Waffenplatzes zufiel, und bald auch ein nicht unwesentlicher Anteil an der Armierung. Es hat danach durchaus den Anschein, dass die Heeresleitung des Kaiserreichs gar nicht damit rechnete, Lille zu einem festen Punkt des Widerstandes zu machen.
Die alte Festung Lille rühmte sich, sechs oder sieben Belagerungen überstanden zu haben, unter denen die von 1708 unter Vauban und die von 1792 durch die republikanische Bürgerwehr zu den Ruhmestiteln ihrer Geschichte gezählt wurden. Die neue Befestigung Lilles, an der besonders seit 1856 mit bedeutendem Kostenaufwand gearbeitet worden war, galt 1870 noch nicht als abgeschlossen - und wurde 1914 als veraltet preisgegeben. Die Stadt hat im Oktober vorigen Jahres alle Schrecken eines Bombardements, aber keine Belagerung erlebt.
Wie überall in Frankreich kam der Ausbruch des Krieges im Juli 1870 auch für die Liller völlig unerwartet, trafen die Niederlagen von Weissenburg, Spichern und Wörth die Bürgerschaft wie Donnerschläge, nahm man den Zusammenbruch von Sedan mit tiefster Empörung, den "Verrat von Metz" mit sichtlicher Entrüstung auf.
Bis die "Garde nationale mobile", die durch das Gesetz vom l. Februar 1868 zum dritten Male begründet war, in Tätigkeit treten konnte, vergingen sechs Wochen, und auch dann bestanden noch allerlei Schwierigkeiten mit dieser Truppe, für die es zunächst an jeder Erfahrung der Disziplin fehlte: kam es doch in der Nacht vom 19. zum 20. Oktober zu einer Erregung, die fast an Meuterei grenzte. Immerhin hatte man jetzt eine Garnison, die den Wachtdienst in weitem Umfang übernehmen konnte, und die Bürgerkanoniere wurden für die Armierung frei.
Die Befestigung von Lille zählte zwischen der Noble Tour (bei St. Sauveur) und der Zitadelle 18 neue Werke, die wie die alten armiert werden mussten. Es klingt kaum glaublich, dass dafür nur zwei Batterien aktiver Regimenter zur Verfügung standen: eine vom 15. Artillerie-Regiment und eine, die unter dem Namen "du Finisterre" erscheint, also wohl von dem Brester Korps herübergeholt war; dazu kamen fünf Batterien der Mobilgarde und das Bataillon der Bürgerkanoniere, anscheinend vorwiegend ältere Herren, die seit Jahren ihre Schiessübungen wohl nur zur Verherrlichung von Festlichkeiten und zur Belustigung des Publikums auf der Esplanade vorzunehmen pflegten. Das Korps wurde damals vermehrt und verjüngt, es sollte zuletzt auf 900 Mann gebracht werden, hat aber diese Zahl nie erreicht; von zehn Abschnitten der Verteidigungslinie fielen ihm vier zu: von der Porte de Gand bis zur Porte d'Arras.
Der feurigen Beredsamkeit und der stählernen Kraft Gambettas gelang es im Laufe des Oktobers, die Nationalgarde auf einer erweiterten Grundlage zu mobilisieren: alle waffenfähigen Franzosen vom 21. bis zum 40. Lebensjahre, die nicht verheiratet (oder kinderlose Witwer) waren, wurden einberufen. Das galt damals als eine ungeheure Anstrengung - man vergleiche damit heute, wo unsere alten Feinde demnächst alle Männer vom 18. bis zum 50. Lebensjahre (und keineswegs bloss die waffenfähigen I) eingekleidet haben werden.
Die Organisation des nationalen Widerstandes im Norden Frankreichs übernahm (für die Departements Nord, Pas-de-Calais, Somme und Aisne) Achille Testelin, dessen Denkmal heute die Place de Strasbourg schmückt: er war ein angesehener Augenarzt, der als strenger Republikaner lange in Brüssel in Verbannung gelebt hatte (1851-1859) und nach dem Rücktritt des kaiserlichen Präfekten zunächst das Departement übernahm, bis er durch den Rechtsanwalt Pierre Legrand, den späteren Handelsminister (sein Denkmal steht an der Esplanade), hierin abgelöst wurde. Testelin, Legrand und der neue Maire Catel-Beghin waren die unermüdlich tätigen Förderer des patriotischen Werkes. Als Militär stand ihnen anfangs der General Farre zur Seite, bis um den 22. Oktober der General Bourbaki eintraf, den Gambetta zum Führer der Nordarmee bestimmt hatte.
Bourbaki tat alles, was in seinen Kräften stand, um die Verteidigung Lilles, das er als Ausgangsstelle betrachtete, zu sichern. Nach dem Fall von Metz musste man ganz anders als vorher mit einer Belagerung rechnen. Aber freilich hatte er sich mit Mängeln des Materials abzufinden, die uns heute geradezu lächerlich erscheinen. und auch die Offiziere, die er verwenden musste, waren zum Teil aus der Rumpelkammer hervorgeholt. So stand an der Spitze der Mobilgarde des Norddepartementa ein alter Kapitän der Marine-Infanterie, Anatole Robin, der sich durchaus wie eine verspätete Nachbildung der Revolutionsmänner von 1792 gebärdete und besonders die braven Bürgerkanoniere und ihre sehr selbstbewussten Offiziere gehörig vor den Kopf stiess.
Nach kaum einem Monat wurde Bourbaki zu einem andern Kommando, zuerst im Zentrum, dann im Osten abberufen. Ehe sein Nachfolger eintraf, musste die noch unfertige Nordarmee unter dem Kommando des Divisionsgenerals Farre, drei Brigaden stark, sich dem Feinde stellen, um ihm den Weg nach Amiens zu verlegen: sie wurde am 27. November bei Villers-Bretonneux geschlagen und musste Manteuffel Amiens überlassen. Inzwischen war der General Faidherbe, ein Sohn der Stadt Lille und vielleicht ihr grösster - als Mensch, Soldat und Gelehrter - aus Algier herbeigeeilt, um den Platz Bourbakis einzunehmen. Die Armee wurde auf vier Divisionen, zwei Korps (22. und 23.) gebracht, und mit diesen trat General Faidherbe dem General Manteuffel im Tale der Hallue, eines rechten Nebenflusses der Somme, entgegen; am 23. Dezember kam es zu der Schlacht, welche die Franzosen nach dem Orte Pont Noyelles nennen; so brav sich die junge Armee schlug, Faidherbe wurde gezwungen, bis hinter die Scarpe, zwischen Arras und Douai zurückzugehen. Mit einem neuen Vorstoss der Nordarmee, zu dem unter anderm auch die aktiven Batterien der Festung Lille herangezogen waren, bezweckte Faidherbe in erster Linie den Entsatz der Festung Peronne und mit ihr die Säuberung des Sommetales vom Feinde. Am 2. und 3. Januar kämpfte er gegen Göben bei Bapaume und zwang den Gegner zwar, die Armee auf das linke Ufer der Somme zurückzunehmen, vermochte aber den Fall von Peronne nicht zu hindern und somit den errungenen Teilerfolg nicht auszunützen. Damals zeichnete sich das 48. Mobilgarde-Regiment besonders aus, an welches das Denkmal am Quai de la Haute Deule erinnert.
Eine letzte, äusserste Kraftanstrengung Faidherbes, die dem Entsatz von Paris galt, führte die Nordarmee in Gewaltmärschen nach St. Quentin, und hier erlitt sie am 19. Januar durch Göben die entscheidende Niederlage.
Auf die Nachricht von dem Rückzug Faidherbes eilte Gambetta nach Lille, um hier (wie anderwärts) in leidenschaftlicher Rede den Kampf bis aufs Messer zu predigen. Aber jetzt folgten die Hiobsposten Schlag auf Schlag: Chanzy bei Le Mans besiegt, das Heer Bourbakis über die Schweizer Grenze gedrängte, Paris zur Übergabe gezwungen. Für die Nordarmee gab es keine möglichen Aufgaben mehr.
Lille hatte beim ersten Anfang der Kriegstätigkeit und schliesslich nach der Niederlage bei St. Quentin mit der Möglichkeit einer Belagerung rechnen müssen; sie blieb ihm erspart - wie die Gläubigen meinten, auf Grund der fleissigen Gebete zum Sacre Coeur, dem man darum später eine Votivkirche errichtet hat. Die Stadt hat in äusserster patriotischer Anstrengung damals ausser mehreren Freikorps eine ganze "Legion" aufgebracht, die aus drei Bataillonen bestand und von einem alten aktiven Unteroffizier, dem Oberstleutnant Loy, kommandiert wurde; diese trat zu den neun Legionen, welche das Norddepartement ohnedies aufzustellen hatte. Sie hat am 10. Dezember Lille verlassen und an allen folgenden Kämpfen teilgenommen.
Die grössten Schwierigkeiten hatte Faidherbe naturgemäss mit der Artillerie. Von den 13 Batterien, die das Norddepartement beschaffen musste, wurden 7 alsbald aus den mobilisierten Teilen der Bürgerkanoniere von Lille, Valenciennes, Cambrai, Maubeuge, Douai und Dünkirchen gebildet und diese nachher verdoppelt. So traten denn auch 240 Mann aus dem städtischen Artilleriekorps Lilles in die mobilisierte Armee über. Der Rest hat bis zum Waffenstillstand fleissig Schiessübungen ab gehalten, zuletzt unter dem Kommando eines Fregattenkapitäns, der wohl etwas Zug in die bequem gewordene Gesellschaft gebracht haben mag.

 

Die "Liller Kriegszeitung" 1914-1917

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