Die "Liller Kriegszeitung" 1914/15

 

Der Alkohol im Felde

Unter alkoholischen Getränken fasst man jene Flüssigkeiten zusammen, die das Gärungsprodukt des Zuckers, den Alkohol, einen im reinen Zustande sehr giftig wirkenden Stoff, enthalten.
Das in Deutschland am meisten verbreitete derartige Getränk ist das Bier, das ungefähr 3-6 % Alkohol enthält. Erheblich grössere Mengen sind im Wein vorhanden, sie betragen etwa 10-20 %, die grösste im Branntwein, nämlich 25 bis 50 %. Gerade in Frankreich werden aber vielfach noch stärkere Spirituosen mit 80-90 % in den Handel gebracht, deren Genuss naturgemäss eine viel grössere Giftwirkung folgen muss.
Sind nun die alkoholischen Getränke unter allen Umständen zu verwerfen, da man ihnen doch vielfach einen günstigen Einfluss nachrühmt, besonders bei Leuten, die schwere Arbeit zu verrichten haben und den Einflüssen der Witterung schonungslos ausgesetzt sind? Sollte der Alkohol nicht gerade unseren Soldaten im Schützengraben eine besonders wertvolle Beigabe sein, indem ihm eine ernährende, eine anregende und stärkende, vor allem auch eine wärmende Wirkung zugeschrieben wird?
Gewiss kann nicht in Abrede gestellt werden, dass Alkohol imstande ist, in beschränktem Masse einen Teil der erforderlichen Nährstoffe zu ersetzen. Für eine Ernährung kann er aber nie und nimmer in Frage kommen, denn der Alkoholiker lähmt durch reichlichen Schnapsgenuss nur seine Magennerven und beseitigt dadurch das Hungergefühl. Die sättigende Wirkung des Alkohols wird also unter schwerer Schädigung des Körpers nur vorgetäuscht.
Auch mit den "anregenden" Wirkungen des Alkohols hat es seine Bedenken! Nach grösseren Anstrengungen körperlicher oder geistiger Art kann bei vielen Personen eine geringe Menge von Alkohol, ein Glas blumigen Weines, recht günstigen Einfluss auszuüben imstande sein. Wird aber die zuträgliche Menge auch nur um ein Geringes überschritten, so treten sehr schnell die gegenteiligen Folgen in Erscheinung.
Am grössten sind aber die Trugschlüsse, mit denen man die erwärmende Kraft des Alkohols erklären wollte. Wenn das äussere Kältegefühl auch tatsächlich durch Genuss stärkerer Spirituosen beseitigt werden kann, so beruht das darauf, dass eine durch Lähmung bedingte Erweiterung der Blutgefässe der äusseren Haut eintritt. Die Haut wird also in erhöhtem Masse mit dem körperwarmen Blute durchströmt und das Gefühl einer Erwärmung erzeugt. Die unvermeidbare Folge ist aber, dass grosse Blutmengen in der Haut abgekühlt und somit dem Innern des Körpers grosse Wärmemengen entzogen werden. So ist es hinreichend bekannt, dass bei Kälte der Schnapsgenuss die Gefahr des Erfrierens ungemein begünstigt.
Aus vorstehenden Ausführungen geht also hervor, dass der Alkohol als Nahrungsmittel ausscheidet und seine anregende wie seine wärmende Wirkung von zweifelhaftem Werte ist.
Geringe Mengen von Alkohol können allerdings gelegentlich günstig wirken, besonders Rotwein bei Darmkatarrhen oder zum Schütze gegen die Unbilden der Witterung, zur Anregung. Aber es muss immer darauf hingewiesen werden, dass solche günstigen Wirkungen nur an die Aufnahme kleiner Gaben gebunden sind. Sobald die bei vielen Leuten recht niedrig liegende Grenze des Zuträglichen überschritten wird, setzen die schädigenden Wirkungen ein, die gerade im Felde, wo an Körper und Geist eines jeden einzelnen die allergrössten Anforderungen gestellt werden müssen, die schwersten Folgen nach sich ziehen können. So ist bei strafbaren Handlungen und geschlechtlichen Erkrankungen die tiefere Ursache in den meisten Fällen der leichtsinnige Genuss des Alkohols.
Mit Rücksicht auf diese Schädigungen ist es durchaus berechtigt, wenn mit allen Mitteln auf eine Einschränkung des Genusses geistiger Getränke hingearbeitet wird. Wenn dennoch kein völliges Verbot erlassen worden ist, Wein und andere Spirituosen sogar in beschränktem Masse ausgegeben werden, so trägt dieses doch durchaus den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung und praktischer Erfahrung Rechnung.
Aber es ist eine Ehrenpflicht eines jeden deutschen Soldaten, sich des Vertrauens würdig zu zeigen und dafür zu sorgen, dass weder er selbst noch seine Kameraden sich einem Alkoholgenuss hingeben, der die treue Erfüllung seiner hohen Aufgaben beeinträchtigen muss.

Stabsarzt Dr. Hesse.

 

Die "Liller Kriegszeitung" 1914-1917

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