Die "Liller Kriegszeitung" 1914/15

 

Die Artillerien unserer Feinde

I. Die französische Artillerie
Zur Feldartillerie rechnet der Franzose auch die Gebirgsartillerie und die schwere Artillerie des Feldheeres. Die fahrenden und reitenden Batterien der Feldarmee sind nicht gleich ausgerüstet. Die ersteren haben ein 75-Millimeter-Schnellfeuergeschütz mit Rohrrücklauf und Schutzschilden. Den reitenden Batterien musste man an Stelle dieses Geschützes ein leichteres vom gleichen Kaliber geben, weil die Schnelligkeit der reitenden Batterien zu ungünstig durch die Schwere des Geschützes beeinträchtigt würde.
Von den französischen Korps haben das 14. (Lyon) und 15. (Marseille) Gebirgsbatterien. Aus diesem Grunde hatte man vermutlich das 15. Korps nach den Vogesen geschafft. Diese Gebirgsbatterien haben Geschütze von 65 Millimeter ohne Schutzschilde. Die in Marokko befindlichen Gebirgsgeschütze sind anderer Art, bedürfen aber wohl keiner Erwähnung, da sie kaum auf dem augenblicklichen Kriegsschauplatz erscheinen werden. Die schwere Artillerie des Feldheeres besteht aus der 155-Millimeter-Feldhaubitze mit Rohrrücklauf und Schutzschilden. Bei der Vermehrung der schweren Artillerie infolge der wiedereingeführten dreijährigen Dienstzeit sollten einige Batterien die l00-Millimeter-Kanone Schneider-Creuzot bekommen. Ob diese Bewaffnung bei Ausbruch des Krieges durchgeführt war, ist zweifelhaft. Ohne Bedienungsmannschaften wiegt das französische Geschütz aufgeprotzt 1950 Kilogramm, abgeprotzt 1140 Kilogramm. Eigenartig ist bei dem französischen Geschütz der graublaue Anstrich, der sich auch auf das Rohr erstreckt. Das Geschütz sieht abgeprotzt lang und niedrig aus. Das etwa 2,25 Meter lange Rohr hat 24 Züge mit zunehmendem Drall. Der Verschluss ist eigenartig. Er wird zum Öffnen nicht zurückgezogen, sondern um 180 Grad gedreht, wobei die leere Hülse ausgeworfen und die Seele freigelegt wird. Gegen das Öffnen beim Fahren und das Abfeuern, ehe der Verschluss geschlossen, schützt eine Sicherung.
Das 75-Millimeter-Geschütz verfeuert Granaten und Schrapnells. Die Granate wiegt 5,316 Kilogramm, das Schrapnell 7,24 Kilogramm. Das letztere enthält 290 zwölf Gramm schwere Kugeln. Diese werden auf 2000 Meter mit über 80 Meter Geschwindigkeitszuwachs herausgeschleudert. Die Brandwirkung des Geschosses soll gross sein. Die Sprengwirkung der Granate besteht aus 825 Gramm Melinit. Der Aufschlagzünder wird erst in der Feuerstellung aufgeschraubt. Das Geschoss soll nach dem Aufschlagen und Abprallen vom Boden in der Luft zerspringen. Man versprach sich von diesen Granaten Grossartiges, doch haben englische Offiziere in Feldpostbriefen an englische Zeitungen die Überlegenheit der deutschen Feldartillerie zugegeben, freilich in erster Linie der schweren Artillerie. 

II. Die russische Artillerie
Die russische Artillerie-Brigade entspricht dem Deutschen Feldartillerie-Regiment;
sie ist in der Regel aus zwei Abteilungen (russisch "Divisionen") zu 3 fahrenden Batterien zu je 8 Geschützen zusammengesetzt, somit enthält, unser militärisches Gefühl merkwürdig berührend, eine Artillerie-Brigade 2 Divisionen.
Die fahrende Batterie, in Russland "leichte Batterie" genannt, gliedert sich in "Gefechtsbatterie": 8 Geschütze - also doppelt so viel als bei einer französischen Batterie - 8 Munitionswagen, 2 Fernsprechkarren, ferner "Batteriereserve" (8 Reserve-Munitionswagen) und "Batterietrain" I. und II. Ordnung.
Leichte Feldhaubitzabteilungen (Mörser-Artillerie-Division genannt), gibt es ebenfalls bei jedem Armeekorps; zur Batterie gehören 6 Geschütze, 18 Munitionswagen, 2 Fernsprechkarren, l Vorratslafette, l Feldküche.
Reitende oder Kosaken-Batterien sind als Abteilungen zu 2 Batterien zu je 6 Geschützen den meisten Kavallerie- und Kosaken-Divisionen zugeteilt.
Gebirgs-Batterien gibt es bei zwei Artillerie-Brigaden. Die 8 Geschütze einer solchen Batterie werden auf je 7, die Munitionskasten auf 80 Tragetieren befördert.
Die schwere Artillerie des Feldheeres, "schwere Feldartillerie" genannt, bildet Abteilungen zu je 3 Batterien zu je 4 Geschützen und 12 Munitionswagen.
Auf dem Marsche folgt jedem Geschütz ein Munitionswagen (unsere "Leichte Munitions-Kolonne" wird dort also durch die bei der Batterie befindlichen Munitions- und Reserve-Munitionswagen ersetzt); auf der Lafette sitzen keine Kanoniere, jedoch auf der Geschützprotze drei, auf dem Munitionswagen fünf.
Fahrende, reitende und Gebirgs-Batterien haben 7,62-cm-Rohrrücklaufgeschütz mit Schildern, Patronenmunition, Schrapnells mit Doppelzünder, Granaten nur Az., grösste Schussweite Az. 6400 m, beim Gebirgsgeschütz Bz. nur bis 5100 m.
Leichte Feldhaubitz-Batterien haben 12,19-cm-Rohrrücklaufhaubitzen mit Schildern, Schrapnells mit Doppelzünder, Granaten nur Az., grösste Schussweite Az. 7600m, Bz. etwa 6400m. (Schrapnells Bz. werden auch im Bogenschuss verfeuert I)
Die Bewaffnung der schweren Artillerie mit 15,2-cm-Haubitzen mit Rohrrücklauf und Schildern hatte vor einigen Jahren erst begonnen, ob die hierfür ausgeworfenen Rubel ihrem Bestimmungszweck zugeführt worden sind, ist bisher nicht in Erfahrung zu bringen gewesen.
Zurzeit verfügt Russland über folgende Artillerie: 440 Fahrende und 43 Gebirgs-Batterien zu je 8 Geschützen, 30 Reitende Batterien, 24 Kosaken-Batterien und 74 Leichte Feldhaubitz-Batterien zu je 6 Geschützen, 8 Abteilungen schwere Artillerie, jede aus 2 Batterien schwerer Feldhaubitzen von 15,2-cm-Kalibür zu 4 Geschützen und 8 Batterien 10,67-cm-Kanonen zu 4 Geschützen, insgesamt etwa 4200 Feldkanonen, 440 leichte Feldhaubitzen, 64 schwere Feldhaubitzen und 32 10,67-cm-Kanonen. Weit über 1000 Stück befinden sich davon in Händen der deutschen und österreichisch-ungarischen Truppen. Der Munitionsvorrat betrug: Bei der Kanonen-Batterie 1232 Schuss (bei den 6 Batterien einer Artillerie-Brigade also 7392 Schuss), bei ihren Munitionsparks 12144 Schuss (mithin bei einer Artillerie-Brigade 1.9536 Schuss); bei den leichten Feldhaubitz-Batterien in der Batterie 960, im Munitionspark 1080 Schuss, mithin zusammen 2040 Schuss. 

III. Die englische Artillerie
In der Englischen Armee ist die Abteilung (Brigade) der höchste Artillerieverband. Die fahrende Abteilung (Kanonen oder Haubitzen) besteht aus 3, die reitende aus 2 Batterien. Zu jeder Abteilung gehört, wie bei uns, eine leichte Munitionskolonne. (Diese hat also nur die englische Armee ausser uns, nicht aber die französische und russische.) Die Gefechtsbatterie besteht aus 6 Geschützen und 12 Munitionswagen. In der Kolonne zu einem folgen jedem Geschütz zwei Munitionswagen, der zweite wird vor dem Gefecht ausgeschieden und bildet mit den ändern zweiten Wagen die Staffel. Beobachtungswagen, nach unserem Muster, sollen in der Einführung begriffen sein.
Die fahrenden Kanonenbatterien haben 8,4-cm (18-Pfünder), reitende 7,6 (13-Pfünder) Rohrrücklaufgeschütz mit Schutzschildern, Patronenmunition, kleine Granaten, nur Bodenkammerschrapnells. Die Bz. reicht bis 5600 m.
Die Haubitzbatterien haben 11,7-cm-Haubitzen mit Rohrrücklauf und Schutzschildern, sowohl Granate wie Schrapnell, erstere nur Az., letztere Bz. bis 6700 m. Alle Fahrzeuge sind sechsspännig, Anstrich graugrün, Rohr brüniert. Protzen haben Fahrsitze für drei Mann, Geschütze haben keine Achssitze (wie die Kanonen unserer reitenden Batterien). Die Geschütze können schnell unbrauchbar gemacht werden durch Zerstörung der Rücklaufbremsvorrichtung, wichtiger Verschlussteile oder der Richtvorrichtungen. Bei fahrenden Batterien sind 86 Kanoniere mit Gewehren bewaffnet, bei reitenden führt jeder Mann eine Mehrladepistole.
Die schwere Artillerie des Feldheeres hat Batterien zu 4 Geschützen, 8 Munitionswagen und eine leichte Munitions-Kolonne. Jede Infanterie-Division hat eine Batterie schwerer 12,6-cm-Kanonen (heavy battery). Die Geschütze sind achtspännig, die Munitionswagen vierspännig. Mannschaften können nur auf den Munitionswagen aufsitzen.
Die 12,8-cm-Kanonen (60-Pfünder) haben Rohrrücklauf, keine Schutzschilder. Das Rohr ist sehr lang und wird auf dem Marsch auf der Lafette zurückgezogen. Munition ist Granate Bz. bis 9500 m, Schrapnell Bz. bis 8700m; Az. beide Geschosse bis 12000 m. Die grosse Schussweite der englischen schweren Artillerie machte sich in den Kämpfen um Armentieres sehr fühlbar, so dass die Korpsreserven bis dicht an Lilie zurückgezogen werden mussten, um nicht unter dem feindlichen Feuer zu liegen.
An Belagerungsartillerie (siege artillery) können der Feldarmee 4 Batterien zu je 4 bespannten 10-cm-Haubitzen (wirksame Schussweite bis 6000 m) und 2 Batterien zu je 4 unbespannten schweren Haubitzen (wahrscheinlich 24 cm, wirksame Schussweite bis 7000 m) beigegeben werden.
Eine Schilderung der englischen Artillerie, ohne auf die Geschütze der englischen Marine hauptsächlich einzugehen, wäre verfehlt. Leider steht mir hier im Felde das Taschenbuch der Kriegsflotten 1914 nicht zur Verfügung. Jedenfalls ist das beste englische Marinegeschütz die 38,1-cm-Schiffskanone L 45, deren Geschoss 885 kg wiegt und eine Anfangsgeschwindigkeit von 760 m hat. Gegen dieses Geschütz hat Krupp, wie bekannt ist, ein 40,64-cm-Schiffsgeschütz (L/50) hergestellt, dessen Geschoss 920 kg wiegt und eine Anfangsgeschwindigkeit von 940 m hat. Die Mündungswucht dieses Geschosses ist um 58 Proz. grösser als die der englischen Schiffskanone. Wie weit das Geschütz schiessen kann, darüber liegen keine Angaben vor, jedenfalls dürfte England aber keine Geschütze besitzen, die über den Kanal schiessen, während wir mit unserer Krupp-Kanone (40,64 cm) bei Erhöhung von 30 Grad 42 Kilometer weit schiessen können. Da der Kanal an der schmälsten Stelle etwa 33 Kilometer breit ist, so könnten wir also nicht nur die englische Kanalküste durch dieses Geschütz beherrschen, sondern noch einen Küstenstrich des englischen Festlandes von 9 Kilometern Breite. 

Hauptmann de Liagre.

 

Die "Liller Kriegszeitung" 1914-1917

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