Was
man in französischen Kasernen findet
Indem
ich diese Überschrift niederschreibe, fährt es mir durch den
Sinn, dass mich im Augenblick eigentlich das Kasernenthema gerade von
dieser Seite am wenigsten interessiert. Denn morgen Mittag soll ich mit
meiner Landsturm-Kompagnie gleich von der Wache weg in so eine französische
Kaserne Einzug halten, und da haben wir uns schon eine gute Woche lang
über all das geärgert, was man dort nicht findet. Es ist recht,
recht viel, aber es lässt sich schliesslich kurz zusammenfassen:
Sauberkeit und Ordnung und alles das, was aus diesen beiden erwächst,
und was dazu dient, sie aufrecht zu erhalten - alles das findet man dort
nicht!
Was man aber findet, an dauernder Einrichtung und zufälliger Hinterlassenschaft,
ist für uns alle lehrreich genug, um etwas schärfer ins Auge
gefasst zu werden. Wir begegnen überall den Zeugnissen einer sehr
ernsten patriotischen und militärischen Arbeit, die ganz deutlich
auf ein festes Ziel eingestellt ist. Da finden wir eine ganze Reihe von
Handbüchern: vom Umfang weniger Bogen bis zu dickleibigen Werken
von 600-1000 engbedruckten Seiten, in welchen die Vorbereitung der Jugend
für die Soldatenzeit, die Ausbildung des Soldaten, die Fortbildung
der Unteroffiziere höchst eindringlich behandelt wird. Dass das Ziel
dieser Ausbildung nicht einfach die militärische Ertüchtigung
der vielfach zum Wohlleben neigenden Nation, sondern der Krieg, ein ganz
bestimmter Krieg ist, tritt deutlich zu Tage: farbige Abbildungen aller
Waffengattungen der deutschen Armee, und nur dieser allein, weisen darauf
hin, und dutzendfache Gelegenheitsergüsse in Wort und Bild, mit Bleistift
und Kreide bezeugen, dass die Erziehung in dieser Richtung gut eingeschlagen
ist. Gestärkt wird der Geist des trotzigen Stolzes und der Zuversicht
durch die Pflege der kriegerischen Erinnerungen: die Republik von heute
ist im Kultus des kriegerischen Ruhms von Frankreich allen vorausgegangenen
Regierungsformen überlegen, einerlei, ob es sich hier um die Feldherren
und um die Siege des französischen Heeres unter dem Königtum,
dem Kaisertum oder der Demokratie handelt. Boufflers, Vauban und Turenne
sind dem französischen Soldaten ebenso vertraut, wie Kleber, der
Strassburger, oder Vandamme, der Sohn des französischen Flanderns,
oder Faidherbe und Chanzy. Auf der Ruhmestafel des 43. Linienregiments
auf der Zitadelle von Lille, die als Geburtsjahr 1638 nennt, ließt
man als die beiden ersten Oberst-Inhaber den Cardinal Richelieu und den
Cardinal Mazarin - in der Wachtstube der Kleber-Kaserne liegt als einzige
Lektüre die prächtig ausgestattete hundertjährige Geschichte
des 19. Regiments Jäger zu Pferde (1792 bis 1892) aus.
Überblickt man das gedruckte Verzeichnis der Vorträge, welche
im Winter 1913 auf 1914 für die Offiziere und passend abgestuft für
die Unteroffiziere auf der Zitadelle gehalten worden sind, so tritt die
ebenso bewusste wie gewissenhafte Vorbereitung auf den Krieg mit Deutschland
überall zu Tage: hier sind alle Stoffe aktuell, die Kriegsgeschichte
scheidet vollständig aus. Gegenstände wie das Zusammenwirken
von Artillerie und Infanterie, die Rolle der Feldbefestigungen in der
modernen Schlacht stehen im Vordergrund. Kartenmaterial, besonders für
Lothringen und die Vogesen, fand sich ein ganzer Pack vor: er war offenbar
nicht zur Verteilung gelangt, da das erste französische Armeekorps
(wenn es überhaupt jemals für die Verteidigung der französischen
Westfront bestimmt gewesen sein sollte, worauf die Karten doch hinweisen),
durch die Gestaltung des Kriegsbeginns andere Aufgaben erhielt. Französische
Karten von Nordfrankreich habe ich unter dem Wust, den man dort zusammengestellt
hatte, nicht gefunden, wohl aber wurde auf einer Offizierstube eine solche
Karte - mit Lille als Mittelpunkt - gefunden, die in der Druckerei des
englischen Generalstabs "Southampton 1912" hergestellt, und
natürlich "only for official use" ("nur für amtlichen
Gebrauch") bestimmt war: ob für Franzosen oder für Engländer,
das war offenbar schon 1912 ganz gleichgültig; die weniger beschäftigte
topographische Abteilung des englischen Generalstab unterstützte
die mit dringender Arbeit überhäufte französische Schwesteranstalt
!
An den Wänden der Kasernen, besonders der Kaserne Vandamme, haben
sich Witzbolde der Kompagnie, die zeichnerischen Talente - und die Schreier
und Prahlhänse vielfach betätigt: vor dem Kriege und nach seinem
Ausbruch. Geschmacklose und gemeine Karikaturen unseres Kaisers, aus schlechten
Witzblättern kopierte Darstellungen, alles mit kindischen Unterschriften,
sind an der Tagesordnung - der säubernde Kalkbesen unserer Landsturmmänner
hat diese Erzeugnisse eines früh genug gebrochenen Übermutes
vernichtet. Auch eines der bei unsern Gegnern sehr beliebten Zukunftsbilder
haben wir gefunden. In breitem, flottem Wurf zierte "eine Karte Europas"
avant la guerre, und eine solche "apres la guerre" die beiden
Wandhälften: nach dem Kriege gibt es nur noch ein ganz kleines, vom
Meer abgeschnittenes Deutschland im oberen Wesergebiet! Italien, auf das
dieser Prophet also fest gerechnet hatte, reicht bis Böhmen und grenzt
hier an den Grossstaat Serbien. Belgien ist (wohl friedlich?) in Frankreich
aufgegangen, während Holland eine nicht unbeträchtliche Ausdehnung
an der Nordsee zugestanden wird. Durch Sachsen und Franken hindurch aber
drückt Russland kräftig die Bruderhand dem französischen
Bundesgenossen, der sich mit dem Westen und Südwesten Deutschlands
begnügt.
Es war gewiss kein Staatsmann und kein Feldherr, der auf einer französischen
Mannschaftsstube vor dem Beginn des Krieges dies Zukunftsbild entwarf:
aber bis zu welcher tollen Verwirrung man die Phantasie des gemeinen Soldaten
erhitzt hatte, dafür darf dies Kartenbild immerhin als Zeugnis gelten,
an dem die Offiziere der Kompagnie mit wohlgefälligem Schmunzeln
vorübergegangen sein mögen.
In deutschen Gefangenen-Lagern haben jetzt Franzosen und Russen reichlich
Gelegenheit, sich die Bruderhand zu drücken - ich glaube nicht, dass
sie davon begeistert Gebrauch machen werden.
Hauptmann
Schröder |