Die "Liller Kriegszeitung" 1914/15

 

Indien und seine Soldaten

In seinem ersten Korpsbefehl an die indischen Soldaten in Frankreich hat der englische Brigadegeneral Wilcox an die grossen geschichtlichen Erinnerungen der Inder gemahnt. - Ihr steht zum ersten Male, sagt er, einem Feind gegenüber, der auf eine alte Geschichte zurückblickt; aber, fährt er fort, wie viel älter ist eure Geschichte.
Es ist richtig, die indische Geschichte ist älter als die deutsche und es ist eine wirkliche und grosse Kultur, die von den arischen Indern im Laufe dieser uralten Geschichte aufgebaut ist. Aber diese Kultur ist rein literarisch, philosophisch, von des Gedankens Blässe angekränkelt, eine Kultur ohne Blut und Eisen, eine Kultur, die seit Jahrtausenden in den Zaubergarten der Mythos und des Märchens gebannt ist. In diesem Zaubergarten sind im Laufe der Geschichte nur grosse verträumte Kinder, aber keine handelnden Männer gewachsen. - Es zeugt daher von einer nur sehr oberflächlichen Kenntnis indischer Verhältnisse, der indischen Soldaten und der indischen Geschichte, wenn der General Wilcox zum Schluss seines Korpsbefehls die seinem Kommando unterstellten grossen Kinder auffordert, auf Frankreichs Boden Geschichte zu machen. Diese indischen Soldaten, gezwungene und niedergehaltene Kulis der englischen Fremdherrschaft, werden im Kampfe gegen Deutschland keine Geschichte machen.
Die phantasiereiche indische Weltanschauung, die uralte, religiös geheiligte Kastengliederung und die grosse Zersplitterung Indiens in hunderte von Fürstentümer hat seit Anfang der uns bekannten Geschichte jedem Eroberer die Unterjochung des Landes leicht gemacht. So überwältigte Alexander mit einer kleinen Schar streitbarer Männer ganz Nordindien. Andere Eroberer folgten, und mit dem Jahre 1000 beginnen die Einfälle der Heere des Islams. -
Ein tapferer Mann mit einem guten Schwert und einem guten Pferd kann in Indien ein Kaiserreich gründen, so erzählten sich damals die kriegsgewohnten persischen Edelleute an den Wachtfeuern der Feldlager und in Bagdad. Khoressan und Damaskus zauberten ihnen die Märchen aus 1000 und 1 Nacht-Träume von unermesslicher Beute an Gold und Silber, kostbare Perlen und Edelsteinen, rauschender Seide und an Frauen schön wie Paradiestöchter vor die Seele. Also zog der in langen Jahrhunderten friedensseliger Arbeit gewonnene Reichtum die fremden Eroberer an, weil der Schwertsinn fehlte, ihn zu sichern und zu halten. Der Islam brachte den grössten Teil Indiens in seine Gewalt. Glänzende Reiche entstanden. In der Eroberung Indiens feierte der Islam seinen höchsten Triumph - aber - an der Eroberung Indiens brach sich seine staatenbildende Kraft. Zugleich aber wurde er in der indischen Geschichte ein weiteres Element der Schwäche. Die indische Kultur zerfällt von nun an in Brahmanismus und Islam.
Es wurde den europäischen Kolonialmächten im Ausgang des Mittelalters leicht, Niederlassungen in Indien zu gründen. Von den Portugiesen, Holländern, Franzosen und Engländern gelang es den letzteren die Oberhand zu gewinnen. Sie schürten und benutzten die Rivalitäten auf dem europäischen Festlande, spielten die indischen Fürstentümer, Kasten und Religionen gegeneinander aus und brachten so mit einem verhältnismässig geringen Aufwand eigener Kräfte ihr indisches Kolonialreich zusammen.
Nur einmal haben die Inder zu einem grossen Schlage gegen die Engländer ausgeholt. Als England von 1853-56 den Krimkrieg gegen Russland führte, entstand eine tiefgehende Gärung. Im Jahre 1857 brach der Aufstand los. Es war zu spät! Englands Hände waren wieder frei, Russland hatte kein Interesse mehr, nach dem eben vollzogenen Friedensschluss den Aufstand zu stützen, und die eingeborenen indischen Truppen machten nicht geschlossen mit. Der Aufstand wurde grausam niedergeschlagen und die Führer vor die Mündungen der Kanonen gebunden und durch Kartätschen angesichts einer zitternden und bebenden Volksmenge hingerichtet.
Seitdem herrscht die Friedhofsstille des britannischen Friedens über Indien und unter der Flagge der englischen Freiheit wird das Land kommerziell ausgebeutet, planmässig industriell niedergehalten und die Bevölkerung von 320 Millionen in politischer Sklaverei gehalten. - Erst wenn sie ihr eigenes Land von der Fremdherrschaft befreit haben, können sie mitreden. Dazu aber hilft keine Philosophie und Literatur, dazu gibt es nur ein Mittel: "Blut und Eisen".

Walter.

 

Die "Liller Kriegszeitung" 1914-1917

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